Der kleine Finn


Es ist 13:31 als der Administrator-Alarm klingelt - Einsatz in meinem Kreis. Schnell entschliesse ich mich den Einsatz selbst anzunehmen. 

 

Die beste Ehefrau von allen hat Nachtdienst, also kann ich mir das Auto schnappen. Ich rufe im Krankenhaus an und habe die Mutter in der Leitung.

 

Der kleine Finn wurde in der 22. Schwangerschaftswoche nach einem Blasensprung tot geboren. 

 

Die Kameratasche steht für solche Fälle immer parat, schnell noch ein paar Einschlagdeckchen und einige Kleidungsstücke von den Näherinnen, die uns versorgen eingepackt und ab auf die Autobahn…. das Navi sagt 35 Minuten, kein Stau. Zügig geht es voran.

 

Ich zünde mir während der Fahrt eine Zigarette an und denke darüber nach, wie der Einsatz wohl werden wird nach der schlimmen Geschichte vor zwei Tagen mit einem Sternenkind in einem anderen Krankenhaus der gleichen Stadt, das ich fotografieren durfte.

 

Als ich ankomme denke ich noch: „Glück gehabt, Parkplatz direkt vor der Klinik.“

 

Am Empfang frage ich nach der Zimmernummer und der Station der Mutter. 

2. Stock. Ich nehme den Aufzug. Auf der Station kommt mir eine Krankenschwester entgegen - sieht meine Kameratasche und spricht mich sofort an, ob ich der Fotograf sei. 

Ich bestätige und sie bringt mich zum Zimmer der Eltern. Ich atme zweimal kräftig ein und aus, klopfe an und öffne die Tür.

 

Der Raum ist abgedunkelt, auf dem Bett liegt die junge Mutter und der ebenfalls junge Vater kauert neben ihr. Die Krankenschwester kommt herein und erklärt, sie würde das Kind herrichten und im Abschiedsraum für uns bereitlegen, wir können schon mal runtergehen und dort auf sie warten.

 

Die recht kraftlos wirkenden Eltern ziehen ihre Schuhe an, und wir fahren mit dem Aufzug in den Keller - die Eltern waren schon mehrmals unten bei ihrem Sohn in den letzten Stunden und kennen den Weg. 

Wir nehmen vor dem Abschiedsraum Platz und warten. Warten 5 Minuten, zehn Minuten……werden langsam ungeduldig….. 

 

Dann kommt die Krankenschwester mit bestürztem Gesichtsausdruck und erklärt uns ganz leise, dass das Kind nicht mehr da sei. 

 

Ich schaue zu den Eltern. Die Mutter, die schon aufgestanden ist, sackt wieder in sich zusammen und beginnt zu weinen. Der Vater schaut die Krankenschwester mit großen, vom vielen Weinen roten Augen an, im Blick absolute Verständnislosigkeit.

 

Die Schwester versucht zu erklären, dass der Kleine wohl schon abgeholt worden ist und sie nicht weiss, wo er ist.

 

Ich werde wütend. 

 

Mühsam beherrsche ich mich und frage in ruhigem Tonfall: 

 

„Warum wurden die Eltern nicht über den bevorstehenden Abtransport informiert?“ „Wo ist das Kind jetzt?“ „Wer ist der Bestatter?“ „Ich fahre hin, egal wo es ist, aber das Kind soll nach dem Wunsch der Eltern fotografiert werden“, sage ich.

 

Sie kann mir keine Antwort geben. Sie schaut mich an, selbst Tränen in den Augen und sagt: „Ich werde es herausbekommen“….. sie geht.

 

Ich drehe mich um und sehe zwei gebrochene Menschen, denen es genommen wurde, sich würdevoll von ihrem kleinen Sohn zu verabschieden und ohne die Möglichkeit, Fotos von Ihrem Sohn zu erhalten.

 

Schweigend sitzen wir beieinander, ich möchte irgendwie trösten, finde aber nicht die richtigen Worte in diesem Moment. Nach 10 Minuten frage ich die Beiden, ob wir nicht nach oben gehen sollen, um zu Erfahren, was die Schwester herausfinden konnte.

 

Oben angekommen schaffen es die Eltern nicht ins Zimmer - vor dem Schwesternraum bleiben sie stehen, die Mutter sinkt wieder zusammen und beginnt zu schluchzen. Der Vater versucht, sich zu beherrschen, kämpft um Fassung - es gelingt ihm aber nicht richtig.

 

Nach schier Endlosen weiteren 10 Minuten kommt die Krankenschwester mit Informationen: Das Kind wurde vom Hospitzverein zum Friedhof gebracht, um die Bestattung in einem Sammelgrab vorzubereiten.

 

Die Mutter sagt mit großen Augen: „Ihr habt uns gesagt, wir können eine Woche lang unseren Sohn sehen, wann immer wir wollen“…….und weint wieder.

 

Ich frage die Schwester nach dem Friedhof - bitte sie, sofort dort anzurufen und zu bewirken, dass ich umgehend dort hin kann um diese letzten Bilder zu machen.

 

Nach dem Telefonat kommt die Schwester wieder und erklärt, dass ich sofort losmüsse, die Friedhofsverwaltung habe gleich Dienstschluss und ich müsste in zehn Minuten am Friedhof sein, wenn ich noch Bilder machen wolle.

 

Ich schau die Eltern lange an und frage: „Wollt Ihr mitkommen, dann könnt ihr Euch wenigstens noch verabschieden?“

 

Der Vater rennt zum Zimmer, holt die Jacken der beiden. 

 

Eilig verlassen wir das Klinikgebäude - das Auto steht zum Glück nicht im Parkhaus sondern direkt davor. 

Rote Ampeln halten uns auf. Rauf auf die Autobahn, zwei Ausfahrten später wieder runter. Grüne Welle. Wieder rot. 

Endlich erreichen wir den Friedhof. Ich schaue auf die Uhr: Noch eine Minute. 

 

Ich fahre die Eltern zum Verwaltungsgebäude und lasse sie aussteigen - sie sollen sicherstellen, dass wir das Kind noch sehen können, während ich einen Parkplatz suche.

 

Auf dem Parkplatz angekommen nehme ich die Kameratasche aus dem Auto. Es beginnt zu regnen. Eilig laufe ich um das Gebäude - der Verwaltungsangestellte wartet schon und führt uns in einen kleinen Raum, in dem ein Päckchen in einem Korb liegt.

 

Ich bitte die Eltern, den Jungen schon mal zu befreien, während ich die Kamera startklar mache. 

 

Während sich die Eltern rührend um Ihren Sohn kümmern, beginne ich zu fotografieren, versuche die Emotionen im Raum einzufangen. 

 

Fotografiere einen perfekten kleinen Menschen, dem es nicht vergönnt ist, auf dieser Welt zu leben. Such Details - Hände, die Ohren, die kleine Stupsnase… Begleite diese drei in dem kurzen Moment, in dem sie noch Familie sein dürfen.

 

So viel Liebe und Trauer auf einem Fleck….. 

 

Ich frage die Eltern, ob sie den Kleinen F. nicht auf den Arm nehmen wollen und mache weiter Bilder. 

Irgendwann vergessen mich die Eltern und sehen nur noch ihren Sohn. Ich packe zusammen und sage den beiden, sie sollen sich so viel Zeit zum Abschied nehmen wie sie brauchen.

 

Während ich warte schiessen mir die Gedanken durch den Kopf…..wie kann so etwas passieren? Darf ein Kind einfach aus dem Krankenhaus abgeholt werden. Darf so etwas passieren? Sicher trägt keiner unmittelbare Schuld an dem, wie die Geschichte bis hier hin gelaufen ist, aber das muss doch nicht sein, denke ich.

 

Nach zwanzig Minuten kommen die Eltern weinend aus dem Aufbahrungsraum. Sie stützen sich gegenseitig, sagen kein Wort. Wir gehen gemeinsam zum Auto und deutlich langsamer als vorher fahre ich die beiden ins Krankenhaus zurück. Ich verabschiede mich.

 

Auf der Heimfahrt zünde ich mir eine Zigarette an und denke bei mir, wie ungerecht die Welt sein kann. Als ob der Schicksalsschlag, sein Kind zu verlieren nicht schon genug wäre.

 

Ich beschliesse, mich mit der Krankenhausleitung in Verbindung zu setzen, um gemeinsam mit der Klinik dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder vorkommt und andere Eltern ein solches Trauma nicht zusätzlich erleiden müssen.

 

Und jetzt werde ich die Bilder des kleinen F. auf den Rechner ziehen und den Eltern diese wichtigen Erinnerungen herrichten.

 

Alles über uns Sternenkindfotografen findet ihr in FB unter DEIN Sternenkind und auf unserer Homepage: www.dein-sternenkind.org